Ein Stapel kleiner Polaroid-Fotos liegt auf einem Holztisch. Die Bilder zeigen verschiedene Motive wie Häuser, Pflanzen und Landschaften.

Warum es sich lohnt, die eigene Biografie zu erzählen

Unser Leben ist der Stoff, aus dem wir geworden sind, wer wir heute sind. Doch wie können wir über die eigene Vergangenheit nachdenken, ohne in Grübelei oder Selbstvorwürfe zu verfallen? Der Auszug aus Claas Triebels Buch „Das bin ich. Das kann ich. Das will ich.“ zeigt, warum biografisches Erzählen nicht nur sinnvoll, sondern heilsam sein kann – und wie es gelingt, den roten Faden im eigenen Leben zu erkennen. Erfahren Sie, wie Sie durch bewusstes Erinnern Selbstverstehen fördern, Entscheidungen besser einordnen und ein Gefühl von Kontinuität entwickeln.

Was sagt mir meine Biografie?

Warum soll es wichtig sein, über die eigene Biografie nachzudenken? Ist es nicht viel besser und sinnvoller, an die Zukunft zu denken als in Nostalgie zu verharren oder ungenutzten Gelegenheiten nachzutrauern? Nahezu immer, wenn man über sich nachdenkt, denkt man auch über die Vergangenheit nach und spricht darüber. Das eigene Le­ben ist nun einmal der Stoff, aus dem man das geworden ist, was man heute ist. Das beinhaltet eine gewisse Gefahr. Was, wenn es einem ge­rade nicht gut geht und man sich denkt: „Genau, wenn ich mir mein eigenes Leben anschaue, dann ist das eine Abfolge von Niederlagen und schlechten Entscheidungen, und jetzt haben wir den Salat. Jetzt geht es mir nicht gut, und mein Leben ist eine Verkettung unglücklicher Umstände, falscher Entscheidungen und Niederlagen, und wenn ich darüber nachdenke, dann kommt mir lediglich zu Bewusstsein, wie ich den ganzen Karren in den Dreck gefahren habe.“ Das ist nicht gut! Das ist eine unnötig negative Umdeutung der eigenen Biografie, gefärbt durch eine aktuelle Stimmung. Ich denke, fast jede:r kennt diese Momente, in denen man sich in ein solches Szenario hineinsteigern kann.

Wie kann man aber das Nachdenken über die eigene Biografie so steuern, dass man nicht in einen negativen Strudel gerät? Ich halte nicht viel davon, sich selbst einzureden oder jemand anderen davon überzeugen zu wollen, dass man doch alles einfach von der positiven Seite sehen solle. So etwas wie „Schreibe Deine eigene Biografie auf, als wärst Du ein Superheld“ funktioniert nicht. Es klingt danach, als sollte man sich austricksen. Dazu sage ich nur: Sie sollten sich selbst lieber ernst nehmen und für schlau genug halten, nicht auf billige Taschen­spielertricks hereinzufallen.

Mehrere ausgedruckte Fotos liegen auf einer hellen Oberfläche. Im Vordergrund ein Bild von zwei Hunden, dahinter ein Foto einer Person in winterlicher Landschaft vor schneebedeckten Bergen, umgeben von weiteren Natur- und Porträtaufnahmen.
Erinnerungen festhalten: Fotos erzählen Geschichten aus unserem Leben – und helfen, den roten Faden in der eigenen Biografie zu entdecken. (Foto: sarandy westfall, Unsplash)

Es herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass es sinnvoll ist, über die eigene Biografie nachzudenken und zu sprechen.

Ob mit Freund:innen, Therapeut:innen, mit einem Coach oder mit sich selbst. Es ist nicht nur sinnvoll, es kann auch sehr wohltuend und sogar heilsam sein. Es gibt allerdings ein paar Vorzeichen, unter denen dieses Erzählen stattfinden sollte, damit es nicht in Grübeln und Ha­dern mündet. Und auch wenn ich sage, dass Sie sich selbst nicht aus­tricksen sollten, ist es sinnvoll, sich an diese Regeln zu halten, um der Erzählung über das eigene Leben einen gewissen positiven Drall zu geben. Sie sollten beispielsweise nicht versuchen, negative Ereignisse auszublenden.

Aber: Sie können Ihre Konzentration darauf lenken, wie Sie aus einer Krise hervorgegangen sind, statt zu rekonstruieren, was falsch gelaufen ist, und wie es sich angefühlt hat, als Sie am Tiefpunkt einer Krisenzeit angelangt waren. Es gibt kein Leben ohne Krisen. Es wäre verlogen, diese auszublenden oder als irrelevant zu erachten. Im Gegenteil: Höhen und Tiefen sind wichtig im Leben. Und auch ohne sich selbst als Superhelden darzustellen, werden Sie in der Rückschau bei den meisten Krisen feststellen, dass Sie etwas Wichtiges daraus gelernt haben. Vielleicht haben Sie gelernt, dass Sie sich am eigenen Schopf aus dem Schlamassel ziehen mussten und Ihnen das auch ge­lungen ist. Vielleicht haben Sie auch gemerkt, dass es liebe Menschen in Ihrem Umfeld gibt, auf die Sie sich verlassen können und die Ihnen helfen. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie geduldig sind und jede Krise irgendwann endet. Oder Sie haben gelernt, dass man Pech aber eben auch einfach mal Glück haben kann. Der positive Drall, den Sie sich beim Nachdenken geben, sollte aber nicht zu heftig ausfallen. Denn es ist nicht verboten, etwas zu bedauern, zu betrauern oder sich etwas zurückzuwünschen.

Über die eigene Biografie nachzudenken, darüber wie man zu der Person geworden ist, die man heute ist, soll weder dazu führen, in Grü­belei zu verfallen noch in Selbstvorwürfe oder Nostalgie. Das Nachden­ken über die eigene Biografie ist dafür gut, die eigenen roten Fäden in der Biografie zu erkennen. Wichtige Themen im Leben zu identifizie­ren, die einem selbst in dieser Form zuvor nicht präsent gewesen sind. Es gibt Forschung dazu, was geschieht, wenn Menschen über ihre Bio­grafie nachdenken. Oder noch besser: ihr Leben erzählen. Ich möchte ein paar Kernthemen aus der psychologischen Literatur herausgreifen, die durch biografisches Erzählen angestoßen werden:

Selbst-Verstehen

Durch biografische Erzählungen findet ein Prozess des Selbstverstehens statt. Manche Menschen fragen sich: Andere sind nach der Schule ins Ausland gegangen. Ich habe das nie gemacht. Warum eigentlich nicht? Die Antwort müssen Sie sich selbst geben.

Dialog mit sich selbst

Durch biografisches Erzählen kommt man den Motiven für solche be­wussten oder auch unbewussten Entscheidungen, die mitunter weit­reichende Folgen hatten, auf die Spur. Sie erfahren dadurch etwas über Ihre Gedanken, Ihre Gefühle und Ihre Motive. Biografisches Erzählen ist so etwas wie ein Selbstgespräch. Auch wenn Sie jemand anderem Ihr Leben erzählen, konstruieren Sie diese Erzählung in dem jeweiligen Moment neu und erzählen sich Ihr Leben ein Stück weit selbst.

Sog der Erzählung

Wenn Sie einmal angefangen haben, geraten Sie in einen Fluss der Er­zählung. Es stellt sich der Wunsch nach Vollständigkeit ein. Wenn Sie jemand anderem in einer entspannten Situation Ihr Leben erzählen, dann kann es passieren, dass Sie bis in die Nacht hinein sprechen, weil Ihnen immer mehr einfällt, was noch dazu gehört.

Das eigene Leben reorganisieren

Wenn man das eigene Leben erzählt, sich dafür Raum nimmt und dazu noch jemanden hat, der:die aufmerksam und wertschätzend zuhört, dann reorganisiert man das eigene Leben ein Stück weit. Man fängt zum Beispiel an zu erzählen und ist in einer missmutigen, niedergeschlage­nen Stimmung. Man denkt sich: Zurzeit bin ich nicht so zufrieden mit meiner aktuellen Situation, und durch diesen negativen Filter blickt man zunächst auf das eigene Leben zurück. Wenn man dann aber zwei Kniffe anwendet, um das eigene Leben zu erinnern, dann interpretiert man sein Leben ein Stück weit um. Man sollte sich darauf konzen­trieren nachzudenken, in welchen Phasen man besonders viel gelernt hat. Das müssen nicht die Phasen sein, in denen es einem besonders gut gegangen ist. Man sollte außerdem darüber nachdenken, wo und warum man wichtige, große Entscheidungen getroffen hat, und noch ein Drittes: In jedem Leben gibt es Höhen und Tiefen. Man sollte beim Erzählen nichts ausklammern, aber man sollte sich nicht auf die Phasen des Tiefs konzentrieren, sondern sich überlegen: Was hat mir geholfen, aus einem Tief wieder herauszukommen, und wie ging es mir danach?

Hauptperson werden

Menschen, die auf diese Art und Weise ihr Leben erzählen, nehmen sich als aktiv und autonom wahr. Sie entwickeln außerdem ein Gefühl der Kontinuität. Wenn man lapidar über sein eigenes Leben spricht, sagt man vielleicht anfangs Dinge wie: Mein Leben ist ziemlich chao­tisch, ich habe so manches nicht auf die Reihe bekommen, anderes hin­gegen schon, es ist ein völliges Durcheinander. Durch das Erzählen ent­steht ein Gefühl der Kontinuität. Was zuvor als zufällig oder willkürlich wahrgenommen wurde, erhält durch die Erzählung einen Platz in der Entwicklung und wird als unverzichtbarer Teil der individuellen Bio­grafie wahrgenommen. Wer sein Leben erzählt, entwickelt sehr häufig eine Zufriedenheit, ein Einverstanden sein mit dem eigenen Leben. Das Gefühl: Es ist vielleicht nicht alles großartig, aber es ist an sich in Ordnung wie es ist. Ich kann eigentlich stolz darauf sein, was ich alles schon gemacht habe. Ich bin viel weniger Spielball des Schicksals oder irgendwelcher Leute als ich vorher gedacht hatte, eigentlich ist das alles ganz in Ordnung, so wie es bis hierhin gekommen ist.

Das bin ich. Das kann ich. Das will ich.

Ein Auszug aus dem Buch „Das bin ich. Das kann ich. Das will ich.“ von Claas Triebel (Klett-Cotta, 2023).

Verstehen, was uns prägt – und warum das wichtig ist

  • Frühe Erfahrungen wirken nach: Entdecken Sie, wie Kindheitserlebnisse unser heutiges Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen – oft ohne dass wir es merken.
  • Eigene Muster erkennen: Erfahren Sie, wie Sie alte Prägungen aufspüren und verstehen können, um mehr Klarheit über sich selbst zu gewinnen.
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