In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen begegnen therapeutisch tätige Fachpersonen immer wieder Symptomen, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen: Wutausbrüche, Rückzug, Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, dissoziative Zustände oder scheinbar grundlose Ängste. Was viele dieser Phänomene verbindet, ist ihre Wurzel in traumatischen Erfahrungen – und die Tatsache, dass sie oft nicht als solche erkannt werden.
Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) tritt bei Minderjährigen etwa gleich häufig auf wie ADHS, wird jedoch deutlich seltener diagnostiziert. Dabei sind die Folgen gravierend: unbehandelte Traumata können die gesamte Entwicklung beeinträchtigen, das Risiko für psychische und körperliche Erkrankungen erhöhen und sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen. Umso wichtiger ist eine frühzeitige, bedarfsgerechte und traumafokussierte Behandlung.
Traumafolgen verstehen – ein Paradigmenwechsel
Die Symptome der PTBS sind nicht Ausdruck von Schwäche oder Krankheit im klassischen Sinne, sondern hochfunktionale Schutzreaktionen auf extreme Belastungen. Intrusionen, Vermeidung, Übererregung und negative Kognitionen sind Anpassungsleistungen des Gehirns im Überlebensmodus. Sie machen Sinn – und genau darin liegt der Schlüssel zur Behandlung.
Das Buch „Traumatherapie mit Kindern und Jugendlichen“ bietet eine fundierte Orientierungshilfe für die Praxis. Es verbindet kognitiv-verhaltenstherapeutische Modelle mit neurobiologischen Erkenntnissen und stellt die traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie (tfKVT) als evidenzbasierten Ansatz vor. Dabei geht es nicht um das Bekämpfen von Symptomen, sondern darum, sie überflüssig zu machen – durch korrigierende Erfahrungen, Kontextualisierung und die Wiederherstellung von Sicherheit.
Diagnostik: PTBS erkennen, wo sie sich versteckt
Traumafolgestörungen treten selten „in Reinform“ auf. Viel häufiger begegnen sie uns in „Verkleidungen“: als Essstörung, ADHS, Depression, Zwang oder aggressives Verhalten. Die Leitlinien empfehlen ein routinemäßiges Screening auf traumatische Ereignisse – doch in der Praxis fehlt oft das Wissen, die Sicherheit oder die Zeit.
Das Webinar am 19.09.2025 mit Dr. Patrick Fornaro und Prof. Dr. Johanna Unterhitzenberger setzt genau hier an. Es bietet therapeutisch tätigen Fachpersonen einen praxisnahen Überblick über die typischen Symptome und Dynamiken der PTBS und zeigt, wie Diagnostik und Behandlung im Alltag gelingen können – zwischen Leitlinien und Bedürfnisorientierung.
Beziehung als Wirkfaktor: Sicherheit, Mitgefühl und Hoffnung
Viele traumatisierte Kinder haben Bindungsverletzungen erlebt. Die therapeutische Beziehung muss daher mehr sein als ein Setting – sie ist ein sicherer Hafen. Das Buch beschreibt eindrucksvoll, wie Sicherheit im Raum, Vorhersehbarkeit, Mitbestimmung und Kontinuität gestaltet werden können. Dabei gilt: Vertrauen ist kein Muss, sondern ein Ziel der Therapie.
Die Haltung der Therapeut:innen ist entscheidend. Validierung, Mitgefühl und die Anerkennung der Anpassungsleistung der Kinder schaffen die Basis für Veränderung. Das Modell von „Häschen und Denker“ veranschaulicht kindgerecht, wie das Gehirn im Überlebensmodus funktioniert – und wie es durch Therapie wieder in den Lernmodus zurückfinden kann.
Stufenmodell: Struktur als Kompass in der Therapie
Die Autor:innen schlagen ein vierstufiges Modell vor, das sich als Landkarte und Kompass für die Therapieplanung eignet:

Äußere Sicherheit
Schutz vor weiteren Traumatisierungen, Notfallplanung, Kinderschutz

Wissen, Bereitschaft und Befähigung
Psychoedukation, Ressourcenaktivierung, Motivation

Traumabearbeitung
Konfrontation mit den Erinnerungen, z. B. durch Traumaberichte

Neuausrichtung
Integration, Rückfallprophylaxe, Zukunftsgestaltung
Dieses Modell erlaubt eine flexible, prozessorientierte Arbeit, die sich an den individuellen Bedürfnissen der Kinder orientiert – ohne den Fokus auf die Traumabearbeitung zu verlieren.
Traumaberichte: Erinnerungen ordnen, Kontrolle zurückgewinnen
Ein zentrales Element der tfKVT ist die Arbeit mit Traumaberichten. Ziel ist es, die fragmentierten Erinnerungen zu integrieren und die emotionale Ladung zu reduzieren. Dabei geht es nicht um ein vollständiges Durchleben, sondern um eine kontrollierte, sichere Auseinandersetzung – begleitet von stabilisierenden Techniken und Ressourcen.
Die Metapher des „Kleiderschranks“ oder des „Wasserballs“ hilft Kindern, ihr Erleben zu verstehen: Die Erinnerungen sind da, ob wir wollen oder nicht. Aber wir können lernen, sie zu sortieren, zu regulieren und ihnen die Macht zu nehmen.
Selbstfürsorge: Auch Therapeut:innen brauchen Sicherheit
Die Arbeit mit traumatisierten Kindern ist erfüllend – aber auch belastend. Sekundäre Traumatisierung, Mitgefühlsmüdigkeit und Burn-out sind reale Risiken. Das Buch widmet diesem Thema ein eigenes Kapitel und bietet konkrete Strategien zur Selbstregulation, zur Arbeit im Resonanzraum und zur bewussten Steuerung von Empathie.
Wir haben […] gesehen, dass wir nur einen sicheren Raum bieten können, wenn wir selber sicher in uns sind. Wenn wir diesem Grundsatz folgen, bedeutet dies auch in Bezug auf den Umgang mit Übererregung, dass wir zuallererst auf uns selbst schauen.
(Zitat aus „Traumatherapie mit Kindern und Jugendlichen“)
Dieser Beitrag basiert auf dem Buch „Traumatherapie mit Kindern und Jugendlichen – Eine Orientierungshilfe für die Behandlung der (komplexen) PTBS“ von Dr. Patrick Fornaro, Dr. Nicole Szesny-Mahlau und Prof. Dr. Johanna Unterhitzenberger.
Zwischen Symptom und Ursache: PTBS bei jungen Patient:innen
- Symptome richtig einordnen: Wie sich PTBS bei Kindern und Jugendlichen zeigt – und warum sie oft übersehen wird
- Traumafokussiert arbeiten: Praxisnahe Impulse aus Forschung und Therapie für eine bedarfsgerechte Behandlung
- Beziehung als Wirkfaktor: Wie Sicherheit, Mitgefühl und Struktur die Grundlage für Veränderung schaffen