In unserer heutigen digitalen Gesellschaft sind Computer, Smartphones und das Internet aus dem Alltag von Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Doch was passiert, wenn die virtuelle Welt nicht nur ein Freizeitangebot ist, sondern zur Flucht vor der Realität wird?
Ein eindrückliches Fallbeispiel aus der psychotherapeutischen Praxis zeigt, wie tiefgreifend psychische Belastungen mit exzessivem Medienkonsum verknüpft sein können – und warum eine ganzheitliche therapeutische Herangehensweise entscheidend ist.
Fallgeschichte: 20-jähriger Patient mit Computerspielsucht
Ein heute 20-jähriger Patient stellt sich erstmals im Alter von 16 Jahren in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Sprechstunde vor. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigt sich ein komplexes Störungsbild: soziale Phobie, depressive Episode und eine beginnende Computerspiel- und Internetsucht.
Der Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule in der siebten Klasse erfolgte aufgrund von Konzentrations- und Leistungsproblemen, vor allem aber wegen Mobbingerfahrungen durch Gleichaltrige. In der neunten Klasse fühlt sich der Jugendliche etwas wohler, bleibt jedoch sozial isoliert. Er beschreibt große Schwierigkeiten, auf andere zuzugehen, hat Angst, etwas Falsches zu sagen, und befürchtet, abgelehnt zu werden. Leistungsängste führen zu häufigen Fehlzeiten, obwohl er sich fachlich nicht überfordert fühlt. Freizeitaktivitäten mit Gleichaltrigen sind selten, das Verhältnis zu den Eltern ist distanziert. Seit etwa anderthalb Jahren verbringt er täglich drei bis vier Stunden am Computer – mit Online-Spielen, Surfen und Chatten. Er geht spät ins Bett, hat Schwierigkeiten beim Aufstehen und wirkt dauerhaft erschöpft. Die Eltern nehmen die intensive PC-Nutzung zwar wahr, greifen jedoch nicht regulierend ein.
Aus der Anamnese geht hervor, dass der Patient als Frühgeborener in der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt kam und maschinell beatmet werden musste. Eine neonatale Infektion wurde überstanden. Die psychomotorische Entwicklung verlief insgesamt unauffällig. Im Kindergarten zeigte er lebhaftes, impulsives Verhalten, begleitet von ausgeprägten Trennungsängsten. In der Grundschule traten Konzentrationsprobleme und soziale Unsicherheiten auf. Die testpsychologische Untersuchung ergibt ein Begabungsprofil im oberen Durchschnittsbereich. Eine ADHS-Diagnose wird ausgeschlossen.
Diagnostisch werden eine soziale Phobie, eine depressive Episode und exzessives Computerspielen festgestellt. Es folgt eine einjährige sozialpsychiatrische Betreuung sowie eine verhaltenstherapeutische Behandlung mit Fokus auf die Angstproblematik. Eine Begrenzung der Computernutzung gelingt nicht, da die Eltern wenig aktiv mitwirken. Dennoch schafft der Jugendliche den Realschulabschluss. Danach reißt der Kontakt zur Behandlung ab.
Drei Jahre später stellt er sich erneut vor – mit denselben Beschwerden, jedoch deutlich gesteigerter Mediennutzung: über zehn Stunden täglich. Er lebt vollständig zurückgezogen, ohne Ausbildung oder Beschäftigung. Er steht gegen 11 Uhr auf und verbringt den Tag am Computer. Besonders häufig besucht er Online-Foren, in denen sich Menschen mit sozialer Phobie austauschen. Zwar fühlt er sich dadurch verstanden, konkrete Veränderungen bewirken diese Inhalte jedoch nicht. Er beginnt erneut eine Verhaltenstherapie und macht Fortschritte bei der Bewältigung seiner Ängste – unter anderem durch Expositionsübungen. Er erhält Unterstützung bei der Suche nach Praktika und Ausbildungsstellen, schiebt Bewerbungsgespräche jedoch immer wieder auf. Obwohl er regelmäßig zu den fachärztlichen Terminen erscheint, zeigen sich im Alltag kaum Fortschritte. Die Mediennutzung bleibt unverändert hoch, und der Kontakt zur Behandlung wird erneut abgebrochen.
Sechs Monate später meldet er sich zum dritten Mal. Er äußert nun klar, dass er seine Internetsucht als zentrales Hindernis erkennt und nur durch deren Bearbeitung Fortschritte im Alltag und in der beruflichen Entwicklung erzielen könne. Er willigt in eine tagesklinische oder vollstationäre Behandlung ein.
(Zum Schutz der Privatsphäre wurden die Namen in diesem Fallbeispiel geändert).
Fazit und therapeutischer Ausblick
An diesem Fallbeispiel wird deutlich, dass internale psychiatrische Störungen wie soziale Phobien und Depressionen häufig in eine Flucht in die virtuelle Welt einmünden. Eine erfolgreiche Behandlung der zugrunde liegenden Störungsbilder ist in dieser Konstellation nur dann möglich, wenn zugleich die Suchtproblematik ernst genommen wird und wenn sie – wie in diesem Fall – im Rahmen der Behandlungshierarchie die erste Priorität erhält. Erst wenn die betroffenen Patienten wieder in der Lage sind, einem geregelten Alltagsleben nachzugehen, kann im ambulanten Bereich eine erfolgreiche Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Probleme erfolgen.
Dieser Fall macht Mut, denn er zeigt auch: Veränderung ist möglich – wenn Einsicht wächst, Unterstützung verfügbar ist und therapeutische Angebote flexibel auf die Lebensrealität junger Menschen eingehen. Der Weg zurück in ein selbstbestimmtes Leben beginnt oft mit dem ersten Schritt aus der virtuellen Welt heraus.
Hinweis für Leser:innen
Wenn Sie selbst oder jemand in Ihrem Umfeld ähnliche Erfahrungen macht, finden Sie auf Planet Psy weiterführende Informationen, Webinare und Austauschmöglichkeiten – sowohl für Fachpersonen als auch für Betroffene.
Das Buch zur Fallgeschichte
Weitere praxisnahe Fallbeispiele und vertiefende Einblicke zum Thema Medienkonsum finden Sie im Buch von Jan Frölich und Gerd Lehmkuhl: Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen. Risiken und Chancen (Schattauer Verlag, 2023).
Quelle
Fallbeispiel: 20-jähriger Patient mit sozialer Phobie, depressiver Episode und Computerspiel-/Internetsucht, S. 140–142, Patient aus eigener Praxis. In: Frölich, J. & Lehmkuhl, G. (2023). Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen – Risiken und Chancen. Stuttgart: Schattauer Verlag.



